Nico Rose | Reflexion

Reflexion: Endorphin oder Schaffensfreude? Verletzung und Verzückung

Am vergangenen Montag bin ich früh morgens auf dem Weg zum Bus böse mit dem rechten Fuß umgeknickt. Der Bus stand schon an der Haltestelle, ich fing an zu laufen, zog meinen Trolley hinter mir her. In der Eile lief ich auf dem Bürgersteig etwas zu weit rechts und knickte von der Bordsteinkante nach rechts um. Möglicherweise das Blödeste, das ich in den letzten zehn Jahren getan habe: Der Zug, zu dem ich eilte, fiel wegen Personalmangel aus. Aber das ist eine andere Geschichte.

Als Selbstständiger, der ich seit eineinhalb Jahren (vollständig) bin, biss ich die Zähne zusammen und machte mich auf dem Weg nach Hamburg, wo ich einen Part in einem Event mit mehreren hundert Kolleginnen und Kollegen der Hamburger Sparkasse spielen sollte. Schon zu Beginn der Zugfahrt war der Knöchel fies angeschwollen. Ich habe in meiner Jugend jahrelang Streetball gespielt, da kennt man das. Eigentlich wäre Kühlen angemessen gewesen, dann Tapen, danach ein paar Tage Ruhe — aber auch nicht zu lange. Man rät heute meist dazu, den Fuß früh so früh wie eben möglich wieder an die Belastung heranzuführen.

Ich hatte an dem Tag allerdings mehrere Workshops zu moderieren, mit dem ganzen Hin-und-Her standen abends rund 17.000 Schritte auf der Uhr. Ich bin nicht sonderlich stolz darauf, aber das ist eine der Schattenseiten, wenn man selbstständig ist (zumal es bei mir so ausschaut, dass ich an einigen Tagen viel Geld verdiene und an anderen eben nichts). Da kneift man dann doch lieber die Arschbacken zusammen.

Nico Rose | Job Crafting

Am nächsten Morgen hatte ich noch einen Impulsvortrag bei einem Hamburger Startup in Ottensen zu bewältigen. Von dort humpelte ich nachmittags mit meinem Trolley als improvisierter Krücke noch zum Carlsen Verlag hinüber, um über ein Buchprojekt zu sprechen. Während ich am Montag noch halbwegs normal laufen konnte, ging nun fast nichts mehr. Gleichzeitig habe ich eine gewisse Aversion gegen Schmerzmittel. Dies wiederum führte zu einer interessanten Erfahrung: Ich hatte den ganzen Tag riiiiichtig gute Laune. Ich fühlte mich energetisiert, war fröhlich, bester Dinge so zu sagen – trotz erheblicher Schmerzen bei jeder falschen Bewegung.

Als ich es spät am Dienstagabend endlich wieder nach Hause schaffte, konnte ich gar nicht mehr auftreten. Glücklicherweise hatte ich mittwochs keine Termine und konnte den Fuß den ganzen Tag hochlegen. Meine Mama hatte Salbe vorbeigebracht, einen Aircast haben wir auch noch im Keller gefunden.

Die besten Drogen macht der Körper selbst

Seitdem frage ich mich, was mir an dem Dienstag eigentlich passiert ist. Ich kann mir gut vorstellen, dass mein Körper mir ob der Schmerzen im Fuß eine Menge Endorphine spendiert hat. Dann wäre meine gehobene Stimmung so etwas wie ein Runner´s High gewesen. Das kenne ich von meiner Zeit bei der Bundeswehr, wenn man nach ein paar Tagen Biwak, Schlafentzug und körperlicher Erschöpfung zum Schluss noch im Eilmarsch in die Kaserne zurückgetrieben wurde. Ich habe seitdem nie wieder so viele Männer weinen sehen.

Es ist so: Wenn damals jemand auf dem Weg zusammenbrach, wurde die Person mit einem Fahrzeug in die Kaserne befördert. Die Marschausrüstung wurde allerdings auf die noch funktionstüchtigen Kameraden verteilt. Ich kann mich erinnern, dass ich damals mit einem zusätzlichen Rucksack und mehreren Gewehren beladen geradezu euphorisch zurück in die Kaserne tänzelte. Später saß ich auf einem Stuhl vor unserer Stube und fing — während die anderen schon ihre Gewehre reinigten — heftig an zu zittern, sicherlich eine Viertelstunde lang. Dann wurde ich ganz ruhig und alles ging seinen normalen Gang (soweit man in einer handelsüblichen Grundausbildung davon sprechen kann).

Neben dem Runner´s High attribuiere ich die gute Stimmung an dem Tag jedoch auch auf diese besondere Form der Schaffensfreude: wenn du mit dir selbst im Einklang bist, im Flow mit den Menschen, mit denen du arbeitest – und in Resonanz mit so etwas wie deinem höheren Zweck auf diesem Planeten. Gleichzeitig bin ich an diesem Nachmittag einer meiner Visionen ein kleines Stück nähergekommen. Ich denke schon seit geraumer Zeit darüber nach, ein Kinderbuch mit Bezug zu Heavy Metal (meiner großen Leidenschaft) zu schreiben. In Kooperation mit Carlsen wird das nun wohl Realität.

Vielleicht war es also dieser besondere Cocktail an jenem schmerzhaften Dienstag: körpereigene Opioide gemischt mit purer Freude an der Arbeit und dem ihr (manchmal) innewohnenden höheren Zweck.

So oder so hat diese Episode meinen Blick für die Tatsache geschärft, dass so etwas wie psychologisches Wohlbefinden (a.k.a. Glück) sich nur sehr unzureichend auf einem einfachen Kontinuum von einem Weniger zu einem Mehr verorten lässt. Der Wissenschaftler Corey Keyes vertritt schon lange die Ansicht, dass es stimmiger und viel realitätsnäher ist, psychologisches Wohlbefinden und psychologisches Leid auf zwei orthogonalen Achsen darzustellen.

Freud und Leid als weitgehend unabhängige Dimensionen

So lässt sich abbilden, dass Menschen große Schmerzen (psychisch und/oder physisch) empfinden und trotzdem wirklich glücklich sein können – gleichzeitig. Auf der anderen Seite kennen wir durchaus Personen, denen es objektiv an nichts fehlt und die eindeutig nicht krank sind, aber trotzdem nicht sonderlich glücklich oder zufrieden wirken. Zum Beispiel, weil sich ihr Leben über die Jahre in Richtung einer gepflegten Langeweile entwickelt hat.

Nico Rose | Corey Keyes | Gesundheit

Da ich mich vor drei Wochen schon mit einem E-Scooter auf die Seite gelegt habe, betrachte ich mein Verletzungssoll für dieses Jahr als übererfüllt. Aber den vergangenen Dienstagnachmittag: den möchte ich trotzdem nicht missen.