Mitgefühl in Organisationen

A Bridge over Troubled Water: Über Mitgefühl in Organisationen

Welchen Satz hören Sie am häufigsten auf der Arbeit? Höchstwahrscheinlich ist es die Frage: „Wie geht es dir?“ Fast jedes Mal, wenn wir eine neue Interaktion starten, ist das die Art und Weise, das Gespräch zu beginnen. Und was antworten wir, wenn jemand uns diese Frage stellt? Meist werden wir sagen: „Danke, alles in Ordnung.“ Und dann würden wir wahrscheinlich zurückfragen: „Wie geht es dir?“ Und die andere Person wird sagen: „Großartig! Danke der Nachfrage…“ So machen wir das im Business, so ist der Flow. Hier in Deutschland reicht das auch schon als Smalltalk. Danach kann man direkt zum Geschäftlichen übergehen.

Der Elefant im Raum

Was wäre aber, wenn eine der beiden Personen in diesem „Wie geht’s dir“-Spiel tatsächlich etwas sagen würde wie: „Ich fühle mich heute überhaupt nicht gut. Weißt du, mein Kind ist krank und ich sollte heute wahrscheinlich nicht hier sein.“ Oder, noch schlimmer: „Mein Vater wird wahrscheinlich in den nächsten Tagen sterben und…“ Plötzlich wäre da dieser riesige emotionale Elefant im Raum. Und dann gäbe es diesen langen Moment des Schweigens…

Schließlich würde die andere Person sagen: „Oh, das ist ja furchtbar. Kann ich etwas tun?“ Und die erste Person, die Unbeholfenheit bemerkend, würde wahrscheinlich antworten: „Nein, nein, ist schon gut. Aber danke, dass du gefragt hast. Lass uns an die Arbeit gehen.“

Und dann würden sie an die Arbeit gehen. Vielleicht würden sie über das Budget für das nächste Jahr sprechen. In der Zwischenzeit würde es sich der emotionale Elefant im Raum gemütlich machen und dafür sorgen, dass die Besprechung eine ausgesprochen merkwürdige Atmosphäre erhält Warum ist das der Fall?

Seit Fredrick Taylors „Scientific Management“ gelten Unternehmen als Orte, die von strenger Rationalität geprägt sein sollten. Es geht um Zahlen, Fakten und Effizienz. Der Mensch, mit all seiner emotionalen Komplexität, wird dabei oft eher Störfaktor gesehen. Viele einflussreiche Theorien der Wirtschaftswissenschaften ignorieren menschliche Emotionen vollständig. Ihr Homo Oeconomicus ist am Ende des Tages eine kalte, egoistische Rechenmaschine.

Und doch kennt jeder von uns den Moment, wenn der Elefant den Raum betritt. Neben positiven Gefühlen wie Stolz und Freude erleben wir bei der Arbeit unweigerlich auch Emotionen wie Wut, Angst und Kummer. Definitiv gibt es eine Menge Angst in Organisationen.

Die Wahrheit ist: Ein Teil des menschlichen Lebens besteht aus Leid. Und deshalb besteht ein Teil des Organisationslebens aus Leid. Vor diesem Hintergrund hat der verstorbene Peter Frost, Management-Professor an der University of British Columbia, den folgenden Satz geprägt:

Pain in the Room | Peter Frost

Es ist immer Schmerz im Raum.

Eine starke Aussage. Weil sie wahr ist. Es gibt jetzt gerade Schmerz und Leid in diesem Raum. 100 Menschen und zu Beginn habe ich gefragt: „Wie geht es euch?“ – und ihr sagtet, es ginge euch gut. Aber ich bin mir sicher, dass in diesem Raum jetzt gerade Schmerz und Leid gibt. Bei manchen wird es körperlicher Schmerz sein, bei manchen emotionaler Schmerz. Aus welchem Grund auch immer. Es ist immer Schmerz im Raum. Das ist menschlich, so ist das Leben.

Das bedeutet nun folgerichtig, dass es auch in Organisationen jederzeit Schmerz Leid gibt. Ich arbeite für ein Unternehmen mit 120.000 Mitarbeitern. Das ist eine Menge Potenzial für Leid, jeden Tag. Es geht nicht immer um Leben und Tod, aber es ist sicherlich immer präsent. Woher kommt dieses Leid in Organisationen?

Ein Teil dieses Leids wird außerhalb der Organisation verursacht, aber die Menschen bringen es mit ins Büro. Es gibt Beziehungsprobleme, finanzielle Sorgen, Krankheit, es gibt den Tod – und natürlich die Steuern. Man erwartet von uns, dass wir die Dinge abschütteln und unsere negativen Emotionen an der Büropforte abgeben. Aber: Das können wir nicht. Wir können unsere Sorgen für eine Weile auf Eis legen, aber wir können sie nicht dauerhaft wegsperren. Das ist schlicht unmöglich.

Außerdem kann die Arbeit selbst eine Quelle des Leids sein: Denkt an cholerische Chefs, unmögliche Arbeitszeiten, Konflikte zwischen Abteilungen, das Ausgeliefertsein in Machtspielen oder die Angst, entlassen zu werden. Als Führungskräfte sprechen wir oft über Veränderung. Wir reden über die Zukunft und wie wir dorthin kommen. Was wir dabei oft vergessen: Wo immer es Veränderung gibt, verlieren Menschen etwas. Wenn etwas Neues ins Leben tritt, muss etwas Altes weichen. Trauer ist, oder sollte zumindest, ein natürlicher Begleiter von Veränderungen sein.

Hier ist eine einfache Wahrheit – jedoch eine, die oft übersehen wird: Als Führungskräfte erzeugen wir Leid. Es ist unausweichlich. Wenn wir kein Leid erzeugen, führen wir wahrscheinlich auch nicht. Menschen zu führen bedeutet manchmal, Entscheidungen über Dinge und Budgets zu treffen – und manchmal, Entscheidungen über Menschen zu treffen. Wer darf an dem neuen coolen Projekt arbeiten und wer nicht? Wer darf über Weihnachten in den Urlaub fahren, wer muss im Büro bleiben? Wer wird befördert, und wer verliert seinen Job? Einige Menschen werden leiden. Als Führungskraft kreierst du Leid. Das ist in Ordnung. Aber du musst dir dieser Tatsache bewusst sein und dich darum kümmern.

Natur des Mitgefühls

Was können wir also tun, wenn wir mit dem Leid einer Person konfrontiert werden, mit der wir zusammenarbeiten? Eine Möglichkeit wäre, es herunterzuspielen oder schlichtweg zu ignorieren. Manchmal raten wir anderen Menschen, stark zu bleiben oder „klarzukommen“? Aber neuere Forschungsarbeiten legen nahe, dass dies, besonders als Führungskraft, so ziemlich das Schlechteste ist, was wir tun können. Auf lange Sicht wird es das Engagement, die Motivation und die Zufriedenheit der Mitarbeiter senken.

Eine andere Art, auf Leiden zu reagieren, ist: Mitgefühl zeigen. Nur ist das ein Wort, dass irgendwie nicht in die Welt der Wirtschaft zu passen scheint. Es scheint zu weich, zu esoterisch. Tatsächlich wird das Wort Mitgefühl am häufigsten mit spirituellen Traditionen in Verbindung gebracht, allen voran mit dem Buddhismus. Was genau bedeutet es nun, Mitgefühl zu zeigen? Wie kommen wir an diesen Ort?

Zuerst eine gute Nachricht: Sie müssen dafür nicht mehrere Jahre nach Tibet gehen und in einer Höhle meditieren. Eigentlich ist Mitgefühl etwas, womit wir geboren werden. Sogar kleine Babys zeigen spontan Mitgefühl, wenn sie mit dem Leid von jemandem konfrontiert werden, der ihnen wichtig ist.

Im Herzen des Mitgefühls gibt es eine einfache und schöne Idee: Der Wunsch, dass andere Individuen frei von Leiden sein mögen. Während Menschen hier im Westen wahrscheinlich zuerst an ihre Familie und Freunde denken würden, ist es das Ziel praktizierender Buddhisten, diesen Wunsch auf alle fühlenden Wesen auszuweiten. Das ist sozusagen die Champions League des Mitgefühls. Sagen wir für den Moment, dass es darum geht, von ganzem Herzen das Beste für andere Menschen zu wünschen.

Mitgefühl als aktives Handeln

Hier kommt der entscheidende Punkt: Mitgefühl bedeutet, etwas zu unternehmen. Es geht um mehr, als nur einfühlsam zu sein. Mitgefühl bedeutet, das Leid eines anderen Menschen zu lindern. Nehmen wir an, Sie sehen jemanden, der sich mit einem Hammer auf den Daumen schlägt. Sie könnten dann sagen: „Oh, ich weiß, wie weh das tut, das habe ich auch schon erlebt.“ Technisch gesehen sind Sie dann empathisch. Sie sind in der Lage zu fühlen, was in der anderen Person vorgeht. Aber wenn es Sie nicht aktiv werden, ist es kein Mitgefühl. Wissenschaftlich ausgedrückt besteht Mitgefühl aus einem Dreischritt:

  1. Das Leid einer anderen Person wahrnehmen;
  2. empathisch sein;
  3. eine Art von Handlung initiieren, um dieses Leiden zu lindern.

Mitgefühl in Organisationen

In Organisationen kann Mitgefühl spontan gezeigt werden, oder es kann bereits in das System eingeplant werden. Was braucht es, um persönlich mitfühlend zu sein? Eigentlich nicht viel. Manchmal bedeutet das schlicht, sich etwas Zeit zu nehmen, um zuzuhören und ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Manchmal bedeutet es, jemanden zu umarmen oder einen Kaffee zu spendieren.

Wenn man in der Lage ist, einen Raum zu schaffen, in dem andere ihr „ganzes Selbst“ zeigen können, in dem sie verletzlich sein können Besonders als Führungskraft kann es manchmal auch ein Zeichen von Mitgefühl sein, Dinge nicht zu tun oder nicht zu sagen, bestimmte Handlungen aufzuschieben. Manchmal geht es einfach darum, die Dinge nicht noch schlimmer zu machen

Auf der Organisationsebene gibt es die Möglichkeit, das individuelle Mitgefühl zu verstärken. Denken Sie an Angebote zur Beratung. Denken Sie an monetäre Unterstützung oder vorübergehende Reduzierung der Arbeitszeit. Gerade bei schweren Schicksalsschlägen ist es eine wichtige Ressource, Zeit zu haben, um Dinge zu verarbeiten und zu sortieren. Wenn Unternehmen an dieser Stelle schnell und unbürokratisch Unterstützung anbieten, ist das ein echtes Zeichen von organisationalem Mitgefühl.

Ein weiteres Element des Mitgefühls in Organisationen sind Rituale. Ich habe bereits darüber gesprochen, dass Veränderungen immer auch Trauer auslösen (können). Wenn langjährige Mitarbeiter in den Ruhestand gehen, oder schlimmer noch, sterben, halten wir typischerweise Abschiedsrituale ab. Aber was ist mit dem Schmerz, den eine Organisation selbst erzeugt?

Wenn es Entlassungen und Umstrukturierungen gibt, leiden Menschen. Ich spreche von Beziehungen, die zerrissen werden, von Menschen, die ihres Stolzes beraubt werden, oder eines Teils ihres Lebenssinns. Das ist nicht nur belastend für die Kollegen, die gehen müssen, sondern auch für diejenigen, die bleiben dürfen. Mit solchen Übergängen persönlich und wertschätzend umzugehen und nicht auf Pressemitteilungen und Floskeln zurückzugreifen, ist ein echtes Zeichen von Mitgefühl.

Vorzüge von Mitgefühl in Organisationen

Was ist das „So what?“ von organisationalem Mitgefühl? Was sind die Vorteile? Es gibt dazu einen ausgezeichneten Übersichtsartikel von Jane Dutton et al. vom Center for Positive Organizations an der University of Michigan. Sie schlägt vor, dass Mitgefühl positive Effekte auf mehreren Ebenen der Organisation entfaltet:

Es wirkt sich positiv auf die Person aus, die Mitgefühl empfängt, es wirkt sich positiv auf denjenigen aus, der Mitgefühl zeigt, es wirkt sich positiv auf potenzielle Beobachter aus – und es erzeugt potenziell Welleneffekte in der gesamten Organisation. Akte des Mitgefühls sind eine Quelle geteilter Emotionen, Dankbarkeit und Gemeinschaft. Darüber hinaus sind die Menschen während des Prozesses an einem gemeinsamen Akt der Sinnfindung beteiligt.

Infolgedessen erleben die Mitarbeiter ein höheres Maß an Dankbarkeit, Stolz und Sinnerleben. Einige Studien legen nahe, dass es eine messbare Auswirkung auf die Bottom Line gibt. Denken Sie an verringerte Fehlzeiten, niedrigere Burnout-Raten, weniger Fluktuation. Auf der Haben-Seite sehen wir mehr Vertrauen, Kooperation und Zufriedenheit. Das sind zwar nur weiche Faktoren, aber sie werden sich letztendlich in den finanziellen Ergebnissen des Unternehmens niederschlagen.

Was untergräbt Mitgefühl in Organisationen?

Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich noch etwas dazu sagen, was Mitgefühl in Organisationen unterminiert. An dieser Stelle könnte ich darüber sprechen, wie bestimmte Werte und Normen das Mitgefühl ersticken und buchstäblich abtöten, zum Beispiel starre hierarchische Führung, überzogene interne Wettbewerbsorientierung der eine machohafte „Jungs weinen nicht“-Kultur. Aber um der Kürze willen werde ich über etwas anderes sprechen: Über Sie!

Ich spreche hier an einer angesehenen Wirtschaftshochschule. Die meisten, wenn nicht alle von Ihnen, werden zukünftige Führungskräfte sein. Das ist eine großartige Nachricht, aber darin liegt auch ein Risiko: Verschiedene Studien, zum Beispiel von Adam Galinsky et al. von der Columbia Business School, legen nahe, dass wir dazu neigen, weniger empathisch zu werden, je mächtiger wir sind. Wenn wir in der Unternehmenswelt aufsteigen, verlieren wir tendenziell – zumindest bis zu einem gewissen Grad – unseren angeborenen Impuls, zu fühlen, was andere fühlen. Wenn wir aufsteigen, kümmern wir uns typischerweise weniger um das Leiden anderer.

Gleichzeitig legen Untersuchungen von Jennifer Berdahl et al. von der University of British Columbia nahe, dass Führungskräfte weniger bereit sind, ihren negativen Emotionen Ausdruck zu verleihen. Sie neigen dazu, diese für sich zu behalten. Infolgedessen ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie Mitgefühl erfahren – selbst, wenn sie es dringend benötigen. Dementsprechend gibt es eine Art Mitgefühlswüste an der Spitze der meisten Organigramme.

Denken Sie daran: Als Führungskraft, besonders wenn Sie Teil eines Top-Management-Teams sind, haben Sie eine Vorbildfunktion, ob Sie wollen oder nicht. Die Leute werden zu Ihnen aufschauen, Sie geben den Ton in der Organisation an. Infolgedessen scheint es eine Art Teufelskreis zu geben. Führungskräfte neigen dazu, weniger mitfühlend zu werden, wenn sie an Macht gewinnen, und gleichzeitig prägen sie die Normen der Organisation. Wenn man dies berücksichtigt, scheint es, dass hierarchische Systeme die Neigung haben, mit der Zeit weniger mitfühlend zu werden – es sei denn, die Top-Führungskräfte wirken diesem emotionalen Niedergang gezielt entgegen.

Es beginnt bei Ihnen

Und so fängt es bei Ihnen an! Die meisten von Ihnen hier in diesem Raum sind gerade dabei, ihre berufliche Reise anzutreten. Einige von Ihnen werden in ein bestehendes Unternehmen einsteigen und mit der Zeit aufsteigen. Einige von Ihnen werden sich einer gemeinnützigen Organisation anschließen oder eine Karriere im öffentlichen Dienst aufbauen. Viele von Ihnen werden hoffentlich ihr eigenes Unternehmen aufbauen oder Verantwortung im Familienbetrieb übernehmen.

Denken Sie dabei bitte an das Folgende: Sie sind kein anderer Mensch, wenn Sie geschäftlich tätig sind. Sie übernehmen eine Rolle und eine Verantwortung – aber es gibt keine andere Version von Ihnen, die Sie zur Arbeit schicken können. Es sind immer Sie und es ist immer alles von Ihnen. Als Führungskraft werden Sie leiden, und mehr noch, Sie werden die Ursache für Leid sein. Das ist unvermeidlich und Sie müssen Sie darum kümmern. Wenn Sie also demnächst zur Arbeit gehen:

  • Wagen Sie es, Ihr ganzes Selbst zur Arbeit zu bringen.
  • Wenn Sie Menschen führen: Wagen Sie es, Menschen zu ermutigen, ihr ganzes Selbst zur Arbeit zu bringen.
  • Wenn Sie ein Unternehmen aufbauen: Trauen Sie sich, eine Organisation aufzubauen, in der Menschen ihr Bestes, ihr ganzes Selbst sein können.

Wagen Sie es, eine mitfühlende Führungskraft zu sein. Wagen Sie es, von Herzen zu führen. Ich danke Ihnen!


Bei dem Text handelt es sich um ein übersetztes und leicht angepasstes Transkript eines TEDx Talks, den Nico Rose 20 im Rahmen von TEDxEBS gehalten hat.