Markus Winkler | Positive Psychology

Positive Psychologie: Gesundheit ist nicht einfach die Abwesenheit von Krankheit

Ist psychische Gesundheit einfach die Abwesenheit von psychischer Krankheit? Ist psychisches Wohlbefinden schlicht dadurch zu erklären, dass ein Mensch keinerlei Unwohlsein verspürt? Anders gefragt: Gibt es ein einfaches, lineares Kontinuum zwischen diesen beiden Zuständen? In der Positiven Psychologie und angrenzenden Disziplinen wird die Auffassung vertreten, dass es sinnstiftender ist, psychisches Wohlbefinden und psychisches Unwohlsein als weitgehend voneinander unabhängige Dimensionen zu betrachten.

Schauen Sie sich für ein tieferes Verständnis dieser Idee bitte die folgende Grafik an, die auf Arbeiten des US-amerikanischen Forschers Corey Keyes zurückgeht. Er leitet seine Erkenntnisse aus der eingehenden Befragung großer Stichproben der amerikanischen Bevölkerung ab.

Nico Rose | Corey Keyes | Gesundheit
In der Abbildung werden die An- und Abwesenheit von Zeichen psychischer Gesundheit bzw. psychischer Krankheit als orthogonale Achsen dargestellt. Ergo: Menschen können unterdurchschnittlich, durchschnittlich oder überdurchschnittlich viele Symptome psychischen Wohlbefindens und gleichzeitig unterdurchschnittlich, durchschnittlich oder überdurchschnittlich viele Symptome psychischen Unwohlseins empfinden, woraus sich schließlich eine Reihe unterschiedlicher Lebensgefühle ableiten lässt.

Komplexität des menschlichen Erlebens abbilden

In diesem Sinne können Menschen beispielsweise weitgehend frei von Symptomen psychischer Krankheit sein und gleichzeitig wenig Anzeichen psychischer Gesundheit aufweisen. Dieses Erleben bezeichnet Keyes im Englischen als Languishing. Was er damit meint, ist eine Form des Vor-sich-hin-Dümpelns: Man ist frei von größeren Einschränkungen, verspürt jedoch gleichzeitig wenig Sinn im Leben, erlebt sich als passiv, es Freude und ein klare Ausrichtung, ein Gefühl für „Autorenschaft für das eigene Dasein“.

Ebenso ergibt sich beispielweise die Möglichkeit, dass eine Person zu einem gegebenen Zeitpunkt simultan deutliche Anzeichen von psychischer Gesundheit und Krankheit erlebt; diese Konstellation wird in der Grafik oben links abgebildet. Ich halte es für ungeheuer wichtig, diese Gleichzeitigkeit anzuerkennen, um der Stigmatisierung von psychisch kranken Menschen entgegenzuwirken. Es herrscht vielerorts die Vorstellung, dass depressive Menschen den ganzen Tag niedergeschlagen auf der Couch vor sich hinvegetieren. Obwohl dies naturgemäß vorkommen kann, stellt es nur eine von vielen möglichen Ausprägungen dar. Depression hat viele Gesichter und betroffene Personen durchlaufen Phasen des Auf-und-Ab wie jeder Mensch. Depressive Individuen können also trotz ihrer Erkrankung beruflich überdurchschnittlich erfolgreich sein, gelingende Beziehungen erleben, Kunst und Kultur genießen (und erschaffen); sprich: ein von außen betrachtet „normales Leben“ führen. Deswegen sind andere Menschen auch oft so schockiert, wenn sich – dem Anschein nach – gesunde und erfolgreiche Menschen plötzlich das Leben neben.

Ideal: Positive Gesundheit bei Abwesenheit psychischer Krankheit

Im Idealfall erleben Menschen auch über längere Zeiträume hinweg einen Zustand, den Professor Keyes als Flourishing bezeichnet, zu Deutsch sinngemäß eine Form des psychischen Erblühens (oben rechts). Dies ist gekennzeichnet durch einen hohen Level von positiver Gesundheit (sprich: etwas, das anwesend und greifbar ist) bei gleichzeitiger, weitgehender Abwesenheit von Symptomen psychischer Krankheit. Dieser Zustand ist geprägt von hoher Vitalität, einem Gefühl des Sinnerlebens sowie regelmäßigen Momenten der Freude und der Gewissheit, die Herausforderungen des Lebens meistern zu können; während nur sporadisch Episoden von ausgeprägter Traurigkeit, Erschöpfung, Hilflosigkeit usw. auftreten.

Gleichzeitig dürfte klar sein, dass ein solcher Zustand nicht dauerhaft aufrechterhalten werden kann. Gerade außergewöhnliche Ereignisse wie die Corona-Pandemie führen uns vor Augen, dass das Leben nicht immer eitel Sonnenschein ist. Wir müssen lernen, bestmöglich mit den Einschränkungen zu leben, die uns zur Eindämmung des Virus auferlegt werden. Auf der anderen Seite wird deutlich, dass auch dieses Leben nicht völlig trostlos ist. Man findet das Glück aktuell eher im Kleinen (solange die körperliche Unversehrtheit gegeben ist), erfreut sich möglicherweise an Dingen, die man unter normalen Umständen als gegeben und damit nicht besonders beachtenswert betrachtet.

Eine gewisse stoische Gelassenheit, sprich: weder dem Glück noch dem Unglück allzu große Bedeutung beizumessen, hat sich seit Jahrtausenden bewährt.


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