Der Management-Guru Peter Drucker hat über die vielen Jahrzehnte seines Wirkens immer wieder betont, dass Menschen sich selbst, andere, aber auch Organisationen als Ganzes nur effektiv führen können, wenn sie es vermögen, die Stärken des jeweiligen Systems zu bespielen – um im Laufe der Zeit die selbstredend ebenso vorhandenen Schwächen irrelevant zu machen. Da stellt sich die Frage: Wie können Menschen mehr über ihre authentischen Stärken erfahren?
Das weltweit am weitesten verbreitete System zur Entdeckung der eigenen, auf den Beruf bezogenen Stärken, ist der vom Unternehmen Gallup bereitgestellte »Strength Finder«-Test (Buckingham & Clifton, 2001). Innerhalb der Positiven Psychologie wurde ergänzend ein eigenes System von menschlichen Stärken beschrieben, auf dessen Vorstellung ich mich hier konzentrieren möchte. Eines der frühesten und bedeutendsten Projekte, die Martin Seligman gemeinsam mit Christopher Peterson, einem bereits verstorbenen Kollegen verfolgte, war die Kreation eines Kompendiums menschlicher Charakterstärken und Tugenden (Peterson & Seligman, 2004). Es war auch gedacht als Gegenentwurf zum sogenannten »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (DSM), einer Art Lexikon aller bekannten psychologischen Störungen (American Psychiatric Association, 2013). Während das DSM gesamthaft auflistet, was Menschen in psychologischer Hinsicht aus der Bahn werfen kann, sollte das Stärkenkompendium – ganz im Sinne der Grundhaltung der Positiven Psychologie – all jene Attribute versammeln und beschreiben, die wir an anderen Personen (wie auch an uns selbst) als schätzenswert betrachten. Es geht um jene Eigenschaften und Merkmale, die – so vorhanden – uns im besten Sinne des Wortes auszeichnen.
Zu diesem Zwecke durchpflügte ein Team von Forschern über mehrere Jahre die Weisheitsliteratur dieser Welt, von den Zeugnissen der großen Religionsstifter über elementare philosophischen Texte, Biografien von hochgeschätzten Staatsmännern und -frauen bis hin zu kontemporären Texten, z. B. dem Pfadfinder-Kodex oder auch Klassikern der Psychologie und des Selbsthilfe-Genres. Neben einigen formalen Kriterien sollte ein Attribut die folgende Eigenschaft aufweisen, um in den Katalog aufgenommen zu werden: Es musste über verschiedene Kulturen und über alle Zeitalter immer wieder erwähnt werden, also eine Form von Universalität der menschlichen Erfahrung darstellen. In der Folge entstand ein System aus 24 Charakterstärken, die sich auf sechs übergeordnete Tugenden verteilen. Auf Basis des Kompendiums wurde ein eigenes Testverfahren entwickelt (der VIA-Test), das in der Zwischenzeit ebenfalls millionenfach absolviert wurde.
Im Folgenden finden Sie eine Übersicht über diese Tugenden und Charakterstärken. Die deutschen Beschreibungen beruhen auf der Arbeit eines Teams um den Schweizer Psychologen Willibald Ruch (Ruch, Proyer, Harzer, Park, Peterson, & Seligman, 2010).
Wie Sie erkennen können, enthält dieses System auch Beschreibungen von Stärken, die man in einem klassischen, auf die Business-Welt bezogenen Test, nicht zwingend vermuten würde (Beispiel: Liebe geben und nehmen). Trotzdem lässt sich der Test wunderbar als Methode nutzen, um die eigene Stärkenorientierung im Berufsleben zu entwickeln. Als Kompendium bilden diese 24 Stärken einen vorzüglichen Weg, um Menschen in ihrer Individualität wertschätzend zu beschreiben und sich in positiver Art und Weise über Unterschiedlichkeit und Vielfalt auszutauschen, ohne in klassische Stärken-Schwächen-Muster zu verfallen – denn auch schwach ausgeprägte Stärken bleiben nach Definition der Positiven Psychologie Stärken.
Grundsätzlich folgt das zugrundeliegende Modell einer Logik, die bereits von Aristoteles beschrieben wurde. Demnach liegt eine Stärke auf dem Mittelpunkt eines Kontinuums, dessen Pole durch zwei Laster beschrieben werden können. So lässt sich Mut z. B. als Mittelpunkt zwischen den Polen Feigheit und Übermut charakterisieren. Ferner ist zu beachten, dass diese Stärken immer nur relativ zu den Fähigkeiten eines Menschen in einem konkreten Kontext interpretierbar sind. Sprich: Wenn ein gut ausgebildeter Feuerwehrmann mit entsprechender Ausrüstung in ein brennendes Haus geht, um einen Menschen zu retten, dann ist dies definitiv mutig. Würde ich als Psychologe das Gleiche tun, wäre es hingegen ein Fall von ungesunder Tollkühnheit.
Die weltweit wichtigste Seite, auf welcher der VIA-Test kostenlos in verschiedenen Sprachen absolviert werden kann, lautet: viacharacter.org. Es dauert etwa 15 bis 20 Minuten, den Test zu absolvieren. Außerdem finden Sie dort eine Fülle an Material, um mit Ihrem Testergebnis produktiv weiterzuarbeiten. Eine weitere Möglichkeit, den Test zu absolvieren, bietet sich an der Universität Zürich unter: charakterstaerken.org
Sollten Sie sich entschließen, den VIA-Test zu absolvieren, so erhalten Sie kostenfrei Ihr persönliches Ranking der 24 Charakterstärken. Das wichtigste Element an dieser Rangreihe sind Ihre (meist) vier bis sechs am deutlichsten ausgeprägtesten Stärken. Diese werden in der Positiven Psychologie Schlüsselstärken genannt (Linley, Nielsen, Gillett, & Biswas-Diener, 2010). Dabei handelt es sich um über verschiedene Situationen hinweg stabile Präferenzen im Denken, Fühlen und Handeln. Man könnte auch sagen, die Stärken sind verschiedene Formen von Energie, die wir durch unser Tun in die Welt bringen wollen. Wofür ist es gut, die eigenen Schlüsselstärken zu kennen? Studien legen nahe, dass es uns auf verschiedene Arten und Weisen nützt, diesen möglichst viel Raum in unserem Leben einzuräumen.
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Der Text ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch Arbeit besser machen (Haufe, 2019).