Jeffrey Pfeffer

„Schlechte Arbeitsbedingungen sind soziale Umweltverschmutzung“ | Interview mit Professor Jeffrey Pfeffer, Ph.D.

Professor Pfeffer, in Ihrem jüngsten Buch argumentieren Sie, dass schlechte Arbeitsbedingungen die fünfthäufigste Todesursache in den USA sind. Das ist schockierend. Würden Sie sagen, dass dies ein Sonderfall ist als Folgeerscheinung des deregulierten Arbeitsmarktes? Ich frage, weil viele Arbeitsbedingungen hier in Deutschland deutlich moderater ausgeprägt sind als in den USA.

Die USA sind dezidiert schlechter dran als viele Länder in Europa. Konkret schätzen meine Kollegen Joel Goh, Stefanos Zenios und ich, dass etwa die Hälfte der Todesfälle durch schlechte Arbeitsbedingungen vermieden werden könnten, wenn die USA den west- und nordeuropäischen Staaten ähnlicher werden würden. Trotzdem sind die Auswirkungen von schädigenden Arbeitsbedingungen auf die Gesundheit ein weltweites Problem. Eine Forschungsarbeit über China kam zu dem Resultat, dass dort jedes Jahr etwa eine Million Menschen an Überarbeitung sterben. Die Chinesen wie auch die Japaner kennen eigene Wörter für den Tod durch übermäßiges Arbeiten. In Korea wird neuerdings sehr hart gegen zu lange Arbeitszeiten vorgegangen, weil die negativen Effekte für die Volksgesundheit immer gravierender werden. Selbst in Europa wird – im Angesicht der vermeintlichen Herausforderung durch aufstrebende Volkswirtschaften – der Ruf nach Liberalisierung der Arbeitsmärkte immer lauter. Die Leiharbeit wurde erheblich ausgeweitet, was mehr und mehr Menschen in wenig geschützte, zum Teil prekäre Arbeitsverhältnisse geführt hat. Auch Massenentlassungen kommen viel häufiger vor als früher.

Die gesundheitliche Belastung in vielen europäischen Ländern ist eindeutig geringer als in den USA und Asien. Aber die Belastung durch chronische Krankheiten ist enorm, laut einer McKinsey-Studie auch in Deutschland. Chronische Krankheiten sind eine Folge von Stress und den ungesunden Verhaltensweisen, die durch Stress ausgelöst werden (Rauchen, Alkoholkonsum und Drogenmissbrauch). Arbeit wiederum ist eine der führenden Ursachen von Stress. Folglich sind schlechte Arbeitsbedingungen ein weltweites Gesundheitsproblem.

Wenn Sie über die Stressoren sprechen, denen Menschen in der Arbeit ausgesetzt sind, nutzen Sie den Begriff »soziale Umweltverschmutzung«. Können Sie das bitte näher erläutern?

Nuria Chinchilla, Professorin an der IESE Business School in Barcelona, ist die erste Person, von der ich diesen Begriff gehört habe. Die gängige Definition von Umweltverschmutzung ist das Einführen von Schadstoffen in ein System, z. B. die Verschmutzung von Atemluft oder Trinkwasser durch gesundheitsschädigende Partikel oder Flüssigkeiten. Die Umweltbewegung hat bei vielen Menschen Verständnis dafür geweckt, dass Prävention im Falle der physischen Umweltverschmutzung effektiver und kostengünstiger ist als nachträgliche Wiedergutmachung, zumal die Folgekosten eher selten von Verschmutzern getragen werden – sie werden externalisiert. In dieser Hinsicht wurde zunehmend deutlich, dass Unternehmen die von ihnen genutzten Ressourcen besser bewahren müssen.

In gleicher Weise tun Unternehmen unnötigerweise Dinge bei der Gestaltung von Arbeit, die Menschen und ihren Familien Schaden zufügen: zu viele Überstunden, zu wenig Kontrolle über die Arbeitsbedingungen, zu schlechte ökonomische Absicherung. Auch hier ist Prävention günstiger als nachträgliche Schadensbegrenzung. Wie wäre es, wenn Unternehmen arbeitsinduzierten Stress reduzieren würden, anstatt Stressmanagement-Kurse zur Bewältigung des Status quo zu bezahlen? Wie wäre es, wenn sie Arbeitszeiten und -rhythmen implementieren würden, die den Menschen ausreichend Schlaf garantieren – anstatt Schlafkapseln ins Büro zu stellen? Wie im Fall der physischen Umweltverschmutzung werden die Folgekosten größtenteils der Gesellschaft aufgedrückt. Folglich sollten Unternehmen auch hier bessere Hüter der humanen Ressourcen werden, die ihnen anvertraut werden.

In diesem Zusammenhang fordern Sie Unternehmen auf, eine Art »Human Sustainability Report« anzufertigen. Was ist die Idee dahinter?

Firmen werden angehalten, Reports zu Umweltbelastungen zu veröffentlichen, um Investoren und andere Stakeholder über die betreffenden Management-Praktiken des Unternehmens zu informieren – und um sie zu besseren Leistungen in diesem Bereich anzuspornen. In ähnlicher Weise könnte ein Bericht über menschliche bzw. soziale Nachhaltigkeit wertvolle Impulse geben, um jenen Faktoren mehr Aufmerksamkeit zu widmen, die das Wohlbefinden der Mitarbeiter beeinflussen.

Ein Beispiel: Die Robert-Wood-Johnson-Stiftung und die Global Reporting Initiative haben sich auf den Weg gemacht, ein Set von Reporting-Standards zu entwickeln. Diese Standards erfassen u. a. das soziale Kapital und den Zusammenhalt, verantwortungsvolle politische Aktivitäten, lokales Engagement, Gesundheitsprogramme, bezahlte Urlaubs- und Krankheitstage, Krankenversicherungen, Arbeitszeiten, Jobsicherheit, die physische Umgebung sowie arbeitsbezogene Gesundheitsrisiken inklusive Verletzungen und Krankheitstagen, die aufgrund ebensolcher Risiken entstanden sind. Das alles befindet sich allerdings noch in einer Frühphase der Entwicklung.

Das klingt vernünftig, aber auch aufwendig. Gibt es einfachere Lösungen?

Ich würde für den guten Anfang die Messung von zwei Indikatoren vorschlagen: Zum einen eine einfache Selbstauskunft der Mitarbeiter (eine einzelne Frage) zum gegenwärtigen Gesundheitszustand. Die Forschung zeigt, dass diese Messung ein guter Prädiktor für Krankheits- und Sterblichkeitsraten vieler Alterskohorten und Ethnien ist. Zum anderen könnte die Nutzung verschreibungspflichtiger Medikamente erfasst werden. Wenn sich viele Mitarbeiter unwohl fühlen, dann erhöht sich in der Folge der Medikamentenkonsum. Die Nutzungsrate für Antidepressiva, Schlaftabletten und Betäubungsmittel kann ein guter Indikator für die Gesundheitsfreundlichkeit einer Arbeitsumgebung sein, insbesondere wenn diese Kennzahl mit ähnlichen Unternehmen oder der Allgemeinbevölkerung verglichen wird.

Welche Maßnahmen sollte das Top-Management in Angriff nehmen?

Die Forschung wie auch die Qualitätsmanagement-Bewegung zeigen uns, dass die Messung entscheidend ist. Was gemessen wird, erhält Aufmerksamkeit – und verbessert sich. In diesem Sinne sind relevante Kennzahlensysteme ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur mehr Wohlbefinden der Belegschaft. Eine einzelne Frage nach dem Wohlbefinden wäre, wie schon erwähnt, ein guter Anfang. Darüber hinaus gibt es gut validierte Messinstrumente für fast jeden Faktor, der das Erleben der Mitarbeiter beeinflusst. Zum anderen, und das ist genauso wichtig, muss das Top-Management das Wohlbefinden der Mitarbeiter zu einer Priorität machen. In den 1950ern und 60ern sahen Top-Führungskräfte ihre Rolle darin, die Interessen von Kunden, Mitarbeitern, Anteilseignern und weiteren Interessensvertretern auszubalancieren. In jüngeren Jahren ging es vielerorts einseitig um die Maximierung des Shareholder Value, während alle anderen Stakeholder zu kurz kamen.

Vor Jahrzehnten verseuchten Unternehmen mehr oder weniger ungehindert die Luft, das Wasser sowie Grund und Boden. Zum Teil als Antwort auf regulatorischen Druck, zum Teil aufgrund von sich verändernden sozialen Normen, haben viele Unternehmen eine neue Perspektive eingenommen in Bezug auf ihre Verpflichtungen gegenüber der Umwelt. Dieser Tage priorisieren die gleichen Unternehmen Recycling, die Minimierung ihres Kohlendioxidausstoßes und weitere Maßnahmen zum Schutz der Umwelt. Und siehe da – die Leistungen in diesem so wichtigen Feld haben sich erheblich verbessert. Die Lektion ist eindeutig: Wenn das menschliche Wohlbefinden höher priorisiert wird, werden sich auch hier die Zustände zum Guten entwickeln.

Manager, deren Wirkungsbereich unterhalb der Ebene des Top-Managements angesiedelt ist, und Personalabteilungen haben häufig nicht die Macht, das große Ganze zu ändern. Was kann dort getan werden, um die Bedingungen für ihre Kollegen zu verbessern?

HR-Abteilungen und Middle Manager sollten ihre Fähigkeit zur Einflussnahme entwickeln – etwas, worüber ich in meinem Buch »Power: Why Some People Have It – and Others Don’t« spreche. Darüber hinaus müssen sie Daten und weitere Belege für die Wirkung des Wohlergehens der Mitarbeiter auf den Unternehmenserfolg erarbeiten – und schließlich dafür sorgen, dass das Top-Management diese auch berücksichtigt.

Jeffrey Pfeffer ist »Thomas D. Dee II Professor of Organizational Behavior« an der Graduate School of Business der Stanford University. 2015 wurde er auf Platz 17 im Thinkers50-Ranking geführt, der Liste der weltweit wichtigsten Management-Vordenker. 2017 wurde er zudem in die zugehörige Hall of Fame aufgenommen. Sein jüngstes Buch heißt Dying for a Paycheck: How Modern Management Harms Employee Health and Company Performance – and What We Can Do About It. Kontakt: jeffreypfeffer.com

++++++++++

Das Interview wurde zuerst in Nico Roses Buch Arbeit besser machen veröffentlicht.

++++++++++

Foto: Nancy Rothstein