Superhelden | Nico Rose | Arbeit besser machen

Das Positive und das Negative in der Positiven Psychologie: Kontinuum oder unabhängige Dimensionen?

Die Positive Psychologie geht davon aus, dass das Positive und das Negative in Beziehung zueinander stehen, aber nicht auf einem einfachen Kontinuum verortet sind. Sprich: Das Negative zu beseitigen führt nicht automatisch zur Anwesenheit des Positiven.

  • Die Mittel und Wege, um Menschen mit psychologischen oder körperlichen Einschränkungen zu helfen, sind nicht die gleichen, die Menschen dabei unterstützen, von einem normalen Zustand zu einer Bewegung des Aufblühens zu gelangen.
  • Die Mittel und Wege, um ein ehemals erfolgreiches Unternehmen zu sanieren, sind nicht die gleichen, die man benötigt, um ein mäßig, aber stabil erfolgreiches Unternehmen in Richtung Marktführerschaft zu steuern.

Dass die Konzeption vom Negativen zum Positiven als einfaches Kontinuum nicht stimmig ist, lässt sich auch daran ablesen, dass beide Entitäten zur gleichen Zeit am gleichen Ort (bzw. im gleichen Individuum) existieren können. Wir sind in der Lage, Menschen gleichzeitig zu lieben und zu hassen. Eine gewisse Reife vorausgesetzt, verstehen wir, dass wir ein Bündel aus Stärken und Schwächen sind, die nur bedingt miteinander verwandt sein müssen. Wir können Schmerzen in einem bestimmten Teil des Körpers empfinden und uns trotzdem im Großen und Ganzen wohlfühlen. Ebenso können wir in einem bestimmten Umfang psychologisches Leid und Glück zur gleichen Zeit empfinden. Zu dieser Erkenntnis kommt auch Corey Keyes (2002) auf Basis einer Studie, die mit rund 2000 US-Amerikanern durchgeführt wurde. Manche Menschen weisen starke Anzeichen einer psychischen Krankheit auf und sind trotzdem auf verschiedenen Ebenen des Lebens erfolgreich. Andererseits gibt es Menschen, die eindeutig keine psychologischen Einschränkungen erleben, jedoch auch wenig Anzeichen eines erfüllten Lebens aufweisen (z. B. ausgeprägtes Sinnerleben).

Die Gleichzeitigkeit von positiven und negativen Aspekten gilt umso mehr für komplexe Gebilde wie Organisationen. Jeder, der schon einmal in einem solchen System gearbeitet hat, versteht, dass es sich dabei um eine Melange aus Licht und Schatten handelt. Vieles funktioniert gut, denn sonst könnte die Organisation nicht am Markt bestehen. Anderes läuft so lala. Und in jedem Unternehmen finden sich auch Prozesse, Systeme und Mitarbeiter, die dem Gesamtsystem mehr schaden als nutzen. Die große Frage in Anbetracht knapper Ressourcen wie Budget und Aufmerksamkeit ist dann, worauf Führungskräfte ihre Aufmerksamkeit richten sollten, um ihr Unternehmen in eine gute Zukunft zu führen.

Das Kräfteverhältnis von positiver und negativer Dimension

Ich lade Sie nun zu einem Gedankenexperiment ein. In der Abbildung sehen Sie zwei Superhelden bzw. -heldinnen. Ich werde nun die unterschiedlichen Eigenschaften dieser Heroen beschreiben. Nachdem Sie dies gelesen haben, bitte ich Sie, sich mit der folgenden Frage zu beschäftigen: Wenn ich für einen Tag oder eine Woche in die jeweilige Rolle schlüpfen könnte – für welche Seite würde ich mich entscheiden?

Superhelden | Nico Rose | Arbeit besser machen

Der linke Superheld mit dem roten Cape ist von klassischer Bauart. Stellen Sie ihn sich als abnorm stark und weitgehend unverwundbar vor, entweder aufgrund seiner Natur (wie Superman) oder fortschrittlicher Technik (wie Batman). Demgemäß ist er versiert darin, Babys aus einstürzenden Wolkenkratzern zu retten – und natürlich böse Jungs (sehr selten auch: böse Mädchen) zu vermoppen. Hat er das in seiner vortrefflichen Art und Weise getan, hat er allerdings auch seine Schuldigkeit getan. Zusammengefasst: Dieser Held ist stark und kann daher das Böse in der Welt in Schach halten – sieht es aber nicht als seine Aufgabe an, Schönes, Neues und Gutes in die Welt zu bringen.

Den rechten Superhelden mit dem grünen Cape dürfen Sie sich als eine Art Glücksbärchi vorstellen: gutmütig, hilfsbereit, aber auch klein und schwach. Ein Comic-Oberschurke könnte ihn binnen Sekunden vom Angesicht dieser Erde pusten. Dafür hat er wie alle Glücksbärchis eine andere Superkraft: Er kann Glücksstrahlen erzeugen, die beispielsweise dafür sorgen, dass Menschen Freundschaften und Liebesbeziehungen eingehen. Zusammengefasst: Dieser Held ist schwach, kann jedoch Schönes, Neues und Gutes in der Welt bringen – ist anderseits jedoch mehr oder weniger machtlos im Angesicht des Bösen. Wie entscheiden Sie sich? Bitte denken Sie eine Weile darüber nach. Überlegen Sie auch, auf Basis welcher Kriterien Sie die Entscheidung treffen. Sprich: Was ist attraktiver an der jeweiligen Alternative?

Vor dieses Dilemma stelle ich regelmäßig auch die Gäste meiner Vorträge und Workshops und bitte die Gruppe anschließend, ihre Präferenz durch Handzeichen zu signalisieren. In aller Regel entscheiden sich 70 bis 80 Prozent der Menschen für das grüne Cape – wenn ich vor Personalern spreche, gerne auch mal über 90 Prozent. Für eine Weile das rote Cape überzustreifen, erscheint nur einer Minderheit attraktiv. Die meisten Menschen, die sich für das rote Cape entscheiden, finden die Stärke dieser Option verlockend; sie bekommen einen Glanz in den Augen, wenn sie über die Möglichkeit sprechen, »mal so richtig aufräumen« zu können. Die grüne Fraktion hingegen betont oft, dass der Fokus auf das Positive eher ihrem Naturell entspreche – und dass es insgesamt sinnstiftender erscheint, sich dafür einzusetzen, das Gute in der Welt zu mehren. Auf dieses Argument entgegnet die rote Fraktion regelmäßig, dass mehr Raum für das Wachstum des Guten besteht, nachdem das Böse erfolgreich zurückgedrängt wurde. Die Fans des grünen Capes betonen indes, dass es eben nicht ausreiche, sich nur dem Bekämpfen des Schlechten zu widmen, weil das Gute im Anschluss nicht von alleine wachse.

Wir brauchen beide Seiten

Der Punkt ist: Beide Seiten haben recht bzw. gute Gründe für ihren jeweiligen Standpunkt. Mit etwas Bedacht könnte eine gute Antwort wie folgt lauten: Wir alle brauchen ein reversibles Cape, rot auf der einen, grün auf der anderen Seite. Die starke, harte, kämpferische Seite hat sehr wohl ihre Berechtigung:

  • Sollten Sie je einen Herzstillstand erleiden, dann werden Sie vermutlich dankbar sein, wenn Sie jemand Fachkundiges mit einem Defibrillator traktiert, nicht mit Schüßlersalz Nummer 7.
  • Sollten Sie jemals einem Zustand anhaltender Niedergeschlagenheit anheimfallen, der über schlechte Laune an ein paar Tagen hinausgeht, dann werden Sie es möglicherweise in Erwägung ziehen, Psychopharmaka einzunehmen, um sich wieder in einen funktionalen Zustand zu bringen.
  • Wenn ein Unternehmen in eine grundsätzliche Schieflage gerät, helfen bisweilen harte Einschnitte, um wieder Raum für neues Wachstum zu schaffen.

Es bleibt allerdings ein Fakt, dass die Mittel, Wege und Ziele des roten Superhelden vor allem Symptome bekämpfen und auf das Vergangene bzw. die Gegenwart gerichtet sind. Für die Ausgestaltung einer erstrebenswerten Zukunft reicht er allein nicht aus. Ich werde die Metapher vom roten vs. grünem Cape im Laufe dieses Buches immer wieder einmal bemühen. Sie spiegelt ein Stück das zuvor angeschnittene Verhältnis von Pathogenese und Salutogenese wider.

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Der Text ist ein gekürzter Abschnitt aus Nico Roses neuem Buch Arbeit besser machen.