Sorgen Tunnelblick

Krise zum Quadrat: Über die vielen Gesichter der Selbstsorge

Seit Beginn der Corona-Pandemie – und noch mal verstärkt seit dem Angriff der russischen Armee auf die Ukraine – erhalte ich sehr regelmäßig Anfragen von Unternehme(r)n unterschiedlicher Couleur, die sich um das psychische Wohlbefinden ihrer Belegschaften sorgen: aus menschlicher Fürsorge heraus, jedoch auch aus dem berechtigten Antrieb heraus, den Fortbestand und Geschäftserfolg ihrer Organisationen sicherzustellen. Letztlich ist das eine untrennbar mit dem anderen verbunden.

Die Erlaubnis, sich um sich selbst zu kümmern

Gemäß meinem Tätigkeitsschwerpunkt arbeitete ich in etwa 90% der Fälle mit Menschen aus dem mittleren und gehobenen Management. Naturgemäß begegne ich gerade innerhalb dieser Personengruppe vielen Persönlichkeiten, die von einem starken Leistungsmotiv angetrieben werden. Für solche Menschen ist ein (selbst wahrgenommener) Abfall der eigenen Leistungsfähigkeit aufgrund von Ängsten und Sorgen umso schwieriger auszuhalten, weil er neben der Tatsache an sich regelmäßig mit Sekundärgefühlen wie Scham und Schuld bis hin zur Verzweiflung einhergeht. „Ich sollte doch eigentlich in der Lage sein …“ „Wenn ich wirklich so gut wäre, dann wüsste ich doch, wie …“ Solche inneren Dialoge mögen diese besondere Dynamik veranschaulichen.

Ich sehe und spreche mit Menschen, die regelrechte Gewissensbisse haben, sich „um sich zu kümmern“ angesichts der aktuellen Unsicherheit und der damit verbundenen Ängste. Sie merken einerseits, dass die gegenwärtige „Krise zum Quadrat“ einen persönlichen Einsatz weit über das Normalmaß hinaus erfordert. Sie möchten, in einem positiven Sinn, noch mehr für die zugehörigen Kolleginnen und Kollegen wie auch das Unternehmen als Ganzes da sein. Andererseits bemerken sie, wie die Kräfte zunehmend schwinden, das Energieniveau absinkt und sich auch nicht mehr kurzfristig regenerieren lässt.

„Wir können anderen Menschen nichts einschenken, wenn unser eigenes Gefäß leer ist.“

Trotz der zunehmenden Gewissheit eigener Unzulänglichkeit fragen sich viele Menschen aus der beschriebenen Gruppe, ob es „okay ist“, ob es „erlaubt sei“, sich überhaupt die Zeit zu nehmen, sich (auch) „um sich selbst zu kümmern“. Nun ist mir, übrigens auch aus eigener Erfahrung, mehr als bewusst, dass es schwierig bis unmöglich sein kann, anderen Menschen diese Erlaubnis zu geben – sie muss von innen kommen. Trotzdem möchte ich sagen: Wenn Sie sich hier auch nur entfernt angesprochen fühlen und Ihnen mein Wort irgendetwas gilt: Meine Erlaubnis haben Sie!

„You can’t fill from an empty cup“, heißt es dazu im Englischen. Wir können anderen Menschen nichts mehr einschenken, wenn unser eigenes Gefäß leer ist.

Jeder Jeck leidet anders (und sucht Trost auf anderen Wegen)

Nico Rose LederjackeUnternehmen, die an diesem Punkt unterstützen möchten, stehen vor einer nicht unerheblichen Herausforderung: Menschen gehen gemäß ihrer Persönlichkeit und ihrer Vorerfahrungen höchst unterschiedlich mit Krisen und Belastungen um. Grundsätzlich beobachte ich, dass man die meisten Personen in zwei Kategorien einteilen kann, wobei das eine bewusste Vereinfachung ist (die folgenden Ausführungen gelten natürlich auch für Personen ohne Führungsaufgabe):

  • Manche Menschen finden eher Zugang zu Ruhe im Geist über den Körper: Personen aus dieser Kategorie bevorzugen es, sich körperlich zu verausgaben, beim Joggen, im Fitnessstudio oder beim (Power) Yoga. Ihr Geist kommt tendenziell zur Ruhe, wenn es ihnen gelingt, mittels körperlicher Anstrengung die Stresshormone herunterzufahren, vereinfacht ausgedrückt.
  • Manche Menschen finden eher Zugang zu Ruhe im Körper über den Geist. Personen aus dieser Kategorie bevorzugen es, sich mit geistig anspruchsvollen Tätigkeiten zu beruhigen, sie brauchen nicht den Weg über die körperliche Verausgabung. Dazu zähle ich Meditation und Achtsamkeitsübungen sowie Autogenes Training, aber auch Aktivitäten wie die immer beliebter werdenden Malbücher für Erwachsene oder Aktivitäten wie das Führen eines Tagebuchs.

Des Weiteren lassen sich Menschen grob danach unterscheiden, ob sie die o.g. Aktivitäten eher in Gegenwart anderer ausführen mögen (z.B. eine geführte Meditation in größerer Runde; eine Laufgruppe), oder ob sie ihren Sorgen und Probleme lieber „mit sich selbst ausmachen“ (z.B. eine Einzelmeditation in einem abgedunkelten Raum; Jogging ohne Begleitung mit Musik). Schließlich darf gesagt werden, dass manchen Menschen ihre Sorgen ins Gesicht geschrieben stehen, während andere eher versuchen, solche Gefühle zu verbergen. Manche haben gelernt darüber zu reden, auch weil sie wissen, dass sie dann Hilfe erhalten, andere sind noch nicht so weit. Daraus folgt: Jene Personen, die „am lautesten leiden“, sind nicht zwingend auch jene, die am dringendsten Unterstützung benötigen.

„Jene Menschen, die am lautesten leiden, sind nicht zwingend auch jene, die am dringendsten Unterstützung benötigen.“

Zudem sollte erwähnt werden, dass manche Menschen gelernt haben, Sorgen und Ängste einfach gut auszublenden, indem sie sich auf etwas anderes konzentrieren, vornehmlich auf Arbeit. Bei mir ist das zum Beispiel der Fall: Insbesondere meine Schreibtätigkeiten bringen mich erfahrungsgemäß vorübergehend in einen Flow-Zustand, in dem ich mich ein Stück weit selbst – und damit auch die Sorgen – vergesse.

Manchmal wirkt das von außen so, als seien solche Menschen immun gegenüber Ängsten und Sorgen, doch das ist fast immer ein Fehlschluss. Nur weil es gelingt, diese Gefühle vorübergehend in eine Schublade zu packen, um gut arbeiten zu können, heißt das nicht, dass sie weg wären. Sie melden sich dann nach Feierabend – und in meinem Fall: gerne auch nachts – zurück.

Krisenbewältigung: kein One-Size-fits-all

Daraus ergeht eine einfache, in ihren Konsequenzen jedoch anspruchsvolle, Schlussfolgerung: Suchen Sie aus der Unternehmensführung heraus bitte nicht nach einem Benchmark für „menschliche Krisenbewältigung“, nach dem einen richtigen Weg. Sie werden damit Ihrer Verantwortung nicht gerecht.

  • Im ersten Schritt gilt es, sichere Räume zu schaffen, um über die hier beschriebenen Dynamiken sprechen zu können. Ich wiederhole an diesem Punkt gerne, dass der Abfall der eigenen Leistungsfähigkeit für nicht wenige Menschen mit Scham besetzt ist. Es braucht folglich Ort von hoher psychologischer Sicherheit, um sich dahingehend zu öffnen.
  • Im zweiten Schritt gilt es, eine möglichst hohe Bandbreite an unterschiedlichen Unterstützungsangeboten bereitzuhalten und aus der Unternehmensführung heraus sehr bewusst das Signal zu setzen, dass es OK ist, diese Angebote auch zu nutzen. Wie fast immer gilt: „You go first!“

Zuletzt möchte ich hier einen Appell an die – Gottseidank immer kleiner werdende – „Wir haben jetzt keine Zeit für Chichi“-Fraktion richten: Bitte nehmen Sie sich und gewähren Sie Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Zeit für eine individuelle Form der Selbstsorge. Wenn diese Menschen jetzt nicht dürfen, werden sie irgendwann müssen. Und das wird wesentlich teurer…