Von Bergspitzen und Seilschaften – oder: Warum ich vorrübergehende(!) Frauenquoten befürworte, auch und gerade für die FDP

Aleks Dahlberg - 415290 - UnsplashMeine Partei, die FDP, hat ein Frauenproblem. Konkreter ausgedrückt: viele Frauen haben ein Problem mit der FDP. Der Anteil weiblicher Mitglieder liegt knapp über 20%, der Anteil an Frauen bei den Neueintritten sogar unter 20%. Führende Parteimitglieder, inklusive Christian Lindner, haben in den vergangenen Wochen mehrfach öffentlich bestätigt, dass diese Herausforderung hohe Priorität für die Parteispitze genieße, man an einem Maßnahmenkatalog arbeite – und dabei sogar über noch nicht näher definierte Quotenregelungen nachdenke (z.B. hier in der WELT).

Ich habe der Parteiführung hierfür meine Unterstützung zugesagt und die entsprechende Berichterstattung auch mehrfach in verschiedenen sozialen Medien, allen voran Twitter, geteilt – um mit schöner Regelmäßigkeit mittelgroße Shit-Störmchen zu ernten. Ich werde an dieser Stelle nicht auf irgendwelche tumben Beleidigungen, meist aus dem mit der AFD sympathisierenden Umfeld, eingehen. Geschenkt. Stattdessen möchte ich auf einige der vernünftigen Diskussionen zu sprechen kommen, die ich führen durfte.

Mir fiel prägnant auf, dass sich neben einer Reihe von Männern auch viele Frauen gegen eine Quote aussprachen. Nach meiner Erfahrung ergibt es wenig Sinn, sich darüber zu streiten, was „gerecht“ ist, das hat noch nie zu etwas geführt. Besser ist es, sich darüber zu streiten, was bei gegebener Sachlage „gerechtfertigt“, also angemessen ist, um eines Problems Herr zu werden (…an dieser Stelle fällt mir auf, wie sehr Sprache ein Teil des Problem sein kann…) – wohlweislich der Tatsache, dass jede Lösung die Wurzel eines neuen Problems sein kann.

Ich greife hier (verkürzt) jene drei Argumente auf, die mir am häufigsten begegnet sind:

  1. Quoten sind nicht (grund-)liberal.
  2. Frauenquoten benachteiligen Männer bzw. führen dazu, dass nicht „die Besten“ „nach oben“ kommen.
  3. Als Frau möchte man (frau) keine „Quotenfrau“ sein.

Zu Punkt 1)
Das stimmt. Wenn allerdings eine große Bevölkerungsgruppe systematisch, mittlerweile aber vor allem systemisch, benachteiligt wird (Und ja, das ist auch heute noch dezidiert der Fall, wie ich weiter unten ausführen werde…), ist das eben auch nicht besonders liberal. Hier geht es also um eine klassische Güterabwägung.

Zu Punkt 2)
Das ist theoretisch möglich. Die einfache Wahrheit ist allerdings, dass es seit Anbeginn der Zivilisation in praktisch allen Bereichen des wirtschaftlichen und politisch-öffentlichen Lebens strenge implizite, zum Teil allerdings auch explizite, Männerquoten gab. Zumindest überall dort, wo es um die Verteilung von Macht und Geld ging. Kleines Beispiel gefällig? Ich wurde 1978 geboren. Bis zum Jahr davor durften Männer in Deutschland noch per Gesetz bestimmen, ob ihre Ehefrauen überhaupt arbeiten gehen durften.

Zu Punkt 3)
Das kann ich gut nachvollziehen. Die Herausforderung: Das Gros der Männer* hat und hatte noch nie ein Problem damit, durch ungerechtfertigte Vorteile aufzusteigen. Siehe Punkt 2. Ich arbeite in einer „gehobenen Position“ in der Wirtschaft, bin im Wirtschaftsforum der FDP, Menschen zahlen mit gutes Geld für meine Vorträge. Die traurige Wahrheit ist: Vieles davon hat mit verschiedenen Formen von Unconscious Bias zu tun: Ich bin weiß, 1.90m groß, habe eine tiefe Stimme und ein kräftiges Kinn. Das reicht in vielen Kontexten, um (vorbewusst) als führungstauglich angesehen zu werden. „Die Wissenschaft“ hat das ein ums andere Mal bestätigt.

Der blinde Fleck: Systemische Benachteiligung

Es gibt allerdings noch ein weiteres Argument gegen Quotenregelungen, welches mir häufig begegnet. Diesem möchte ich mich im Hauptteil dieses Aufsatzes annehmen, weil hier meines Erachtens die größte Hürde auf dem Weg zu echter Gleichstellung von Frau und Mann (Sind sie bei dieser Formulierung vielleicht kurz gedanklich gestolpert?) besteht. Das gilt im Übrigen nicht nur für die Situation der FDP, sondern für den gesamten Themenkomplex. Das Argument lautet verkürzt:

Wo ist denn bitte das Problem? Wir haben doch schon seit Jahrzehnten Chancengleichheit in Deutschland.

Das ist sachlich korrekt im juristischen Sinne – betrachtet allerdings ausschließlich die Kirsche auf der Sahne auf dem Eisbecher, der auf der Spitze des Eisbergs abgestellt wurde. Jede Partei hat, gemäß ihrer Grundüberzeugungen und Programmatik, blinde Flecken. Das ist völlig normal, wenn auch nicht zwingend wünschenswert. Den Liberalen sind die Rechte und die Stärkung des Individuums ein hohes Anliegen (Das ist auch der Grund, warum ich mich hier am ehesten politisch zuhause fühle.). Folglich werden Lösungen auch vorrangig auf der individuellen Ebene gesucht. Verkürzt gesagt: „Wenn wir den Einzelnen stark machen, wird er/sie es schon richten.“

Der blinde Fleck liegt dort, wo die stärkenden oder schwächenden Wirkungen von Systemen und inkrementellen Effekten über den Verlauf der Zeit ausgeblendet werden. Da heutzutage offenbar nichts mehr ohne Storytelling geht, versuche es daher an dieser einmal mit einer Metapher.

Vom Bergsteigen

Stellen wir uns vor, eine Gesellschaft hätte es sich vor einigen Jahrzehnten zum Ziel gesetzt, möglichst gleich viele männliche und weiblich Bergsteiger „auf die Spitze“ zu bekommen. Es wird durchaus anerkannt, dass Männer hier einige Vorteile genießen durch ihre – im Mittel – größere Körperkraft. Allerdings glaubt man, dass Frauen dies durch – im Mittel – höhere Beweglichkeit und andere Vorzüge durchaus ausgleichen können.

Nach ein paar Jahrzehnten der gesetzesmäßigen Gleichstellung aller Bergsteigerinnen und Bergsteiger fragen sich einige Menschen, warum es nach Faktenlage immer noch so wenige Frauen bis „ganz nach oben“ schaffen. Tatsächlich zeigt sich, dass auf vielen Bergspitzen kaum Frauen zu finden sind. Wenn es dann doch mal eine schafft, wird ihr zumeist nicht die gleiche Anerkennung zuteil – oder es wird gesagt, sie habe das nur geschafft, weil sie ja eigentlich (wie) ein Mann sei.

Eine Expertenkommission wird daraufhin mit einer Analyse beauftragt. Das Ziel: die Gründe für den Mangel von Frauen auf der Bergspitze herauszuarbeiten – obwohl ja offensichtlich „gleiches Recht für alle“ herrscht. Dabei wird ganz bewusst neben den Jahrzehnten, in denen vor dem Gesetz alle gleichgestellt waren, jene Periode betrachtet, in der dies nicht der Fall war. Konkret: mehrere tausend Jahre, bis zum Anbeginn der menschlichen Zivilisation. Diese Analyse trägt Folgendes zutage:

  • Etwa 99% der gesamten „zivilisierten Zeit“ haben Männer Frauen schlicht und ergreifend verboten, auf Berge zu klettern. Zur Not wurde dieses Verbot auch mit Gewalt durchgesetzt.
  • Seit rund 100 Jahren nehmen Männer das mit dem Verbot zumindest in Teilen der westlichen Welt nicht mehr so genau. Man hat sich mehrheitlich darauf beschränkt, viele Frauen, welche sich an den Aufstieg machen, zu verunglimpfen, anstatt sie direkt zu behindern.
  • Hier und da wurde der Zugang zur Talstation einfach gesetzlich reglementiert. Ehefrauen durften bis zum Fuße des Berges mitkommen, um sich dort von ihren Männern zu abschieden. Ob sie selber klettern durften, lag bei der Entscheidung des Mannes.
  • Weil Bergsteigen ein hohes Gut für die Gesellschaft darstellt, hat man bereits vor ein paar Jahrhunderten Schulen und Universitäten gegründet, um Menschen das Bergsteigen beizubringen. Allerdings dürfen Frauen erst seit wenigen Jahrzehnten am Unterricht teilnehmen, und in der Bergsteiger-Lehre sind sie immer noch massiv unterrepräsentiert.
  • Viele Männer an der Spitze mussten Jahrhunderte lang gar nicht klettern. Bei jenen Bergen in Familienbesitz haben die Inhaber das erstgeborene Kind einfach direkt auf der Spitze absetzen lassen. Sofern es sich um einen Jungen handelte, versteht sich. Der weibliche Nachwuchs wurde stattdessen mit einem erfolgreichen Bergsteiger verheiratet, durfte aber selbst nicht klettern.
  • Bei den Bergen in öffentlicher Hand haben die Männer – durchaus richtig – erkannt, dass man leichter auf den Gipfel kommt, wenn man Seilschaften bildet und sich gegenseitig hochzieht. So sind auch viele Männer oben angekommen, die es auf sich allein gestellt niemals geschafft hätten.
  • Zudem habe diese Seilschaften über die Zeit Trampelpfade in die Berge getreten, Wegmarker hinterlassen oder Pflöcke in den rohen Stein gehauen. Den Ort dieser Zugänge und Schleichwege haben sie über Jahrhunderte in Clubs weitergegeben, zu denen Frauen selbstverständlich nicht zugelassen waren.
  • Um den Aufstieg an die Spitze besser zu managen, hat man über die vergangenen Jahrzehnte verschiedene Zwischenstationen eingerichtet, Basislager und befestigte Camps auf unterschiedlichen Höhen. Diese werden naturgemäß seit Jahrzehnten mehrheitlich von Männern bevölkert. Der Ton dort kann ganz schon rau sein. Viele Frauen fühlen sich damit nicht besonders wohl und beschließen folglich, nicht weiter zu klettern, weil ihnen zu Ohren gekommen ist, dass die Atmosphäre weiter oben noch schlechter sein solle.
  • Viele Frauen ziehen es vor, nach der Geburt einige Jahre mit dem Bergsteigen aufzuhören, weil es recht schwierig ist, gesunde Kinder großzuziehen, wenn man die Hände eigentlich zum Klettern bräuchte. Männliche Kletterer ziehen in dieser Zeit oft uneinholbar davon. An den Talstationen wurden zwar hier und dort Kinderbetreuungseinrichtungen geschaffen, aber leider bislang doch zu wenige. Im Übrigen wird es vielen Bergsteigerinnen, nicht aber den Bergsteigern, auf persönlicher Ebene angelastet, wenn sie ihre Kinder dort zeitweise in Obhut geben.
  • Weil über die Jahrhunderte praktisch nur Männer an die Spitze gelangten, hat sich in die Köpfe der Menschen eingebrannt, dass erfolgreiche Bergsteiger eben männlich sind. Wenn man Menschen beispielsweise bittet, aus dem Kopf einen erfolgreichen Bergsteiger zu malen, zeichnet eine überwältigende Mehrheit intuitiv einen Mann. Diese kognitive Verzerrung sitzt so dermaßen tief, dass das im Übrigen auch für Bergsteigerinnen gilt. In der Folge behandeln sie andere Bergsteigerinnen bisweilen ungerecht, obwohl sie das im Prinzip gar nicht wollen.

Soweit die Ergebnisse der Analyse.

Als eine von vielen Gegenmaßnahmen schlägt die Expertenkommission vor, man könne doch beispielsweise – für einen begrenzten Zeitraum von einigen Jahren – leistungsfähige Lifte bauen, um ganz gezielt Frauen in die Nähe der Spitze zu bringen. Warum nicht sogar ein paar besonders qualifizierte Frauen mit Hubschraubern direkt oben absetzen (So wie es die Inhaber der Berge in Privatbesitz schon immer mit ihren Söhnen getan haben.)? Von dort aus könnten diese Frauen eigene Seilschaften koordinieren, jungen Bergsteigerinnen den Weg leuchten – und schlicht und ergreifend dafür sorgen, dass Bergsteigerinnen auf der Spitze ein völlig normales Bild werden – so dass sich über den Verlauf von einigen Jahrzehnten echte Chancengleichheit, nicht nur Gleichheit vor dem Gesetz, ergeben würde.

Ausblick

Ich bin verhalten pessimistisch, was die Wahrscheinlichkeit der Umsetzung dieses Vorschlags zum Wohle von Bergsteigerinnen angeht. Es müsse doch ausreichen, dass Frauen schon seit längerer nicht mehr offen und aktiv diskriminiert würden, werden viele sagen. Positive Diskriminierung für Frauen, wenn auch nur für ein paar Jahre, so wie seit Jahrtausenden unverhohlen für Männer praktiziert, sei einfach nicht hinzunehmen.

Ich kann die Haltung all jener Frauen nachvollziehen, die sagen: „Ich möchte keine Quotenfrau sein.“ Ich respektiere das ausdrücklich, halte diese Auffassung aber für nicht hilfreich, um das Problem schnell und nachhaltig zu lösen. Ich wünsche mir allerdings, dass die wichtige gesellschaftliche Herausforderung der (echten) Gleichstellung von Frau und Mann – so oder so – langfristig gelöst wird.

Vielen Männer* werden meinen Standpunkt indes nie nachvollziehen können, da mache ich mir keine Illusionen. Nach einer Begründung gefragt werden sie sagen: „Des kannst net machen. Weil des geht echt net.“

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*Jenen Mitmännern, bei denen Hopfen und Malz noch nicht verloren sind, lege ich gerne einen aktuellen Artikel über Advantage Blindness im Harvard Business Review ans Herz.